Afghanische Perspektiven

Nach dem aktuellen Desaster in Afghanistan kommen natürlich einige Fragen auf und viele davon werden ohne weiteres kaum geklärt werden können, schon gar nicht schnell. Neben der innerafghanischen Komponente gibt es aber auch noch geopolitische und geostrategische Überlegungen und die könnte man durchaus einmal näher betrachten, auch im Hinblick auf Nachbarn und kontinentale Interessen verschiedenster Akteure. Schon viele haben versucht, nach Afghanistan zu greifen und nach dem britischen Empire und der Sowjetunion ist nun auch die NATO dort kläglich gescheitert, könnte aber auch versuchen, Vorteile daraus zu ziehen.

Auch die Frage steht im Raum, dass die Entwicklung womöglich gewollt sein könnte. Wer also Interesse haben könnte und warum, dazu müsste man sich die möglichen Folgen näher anschauen und wen die Situation beeinträchtigen oder neue Perspektiven bescheren könnte. Ganz ohne Folgen wird die aktuelle Entwicklung jedenfalls nicht bleiben und es werden sich auch gravierende Folgen einstellen. Versuchen wir einfach mal, ein paar mögliche Szenarien rein hypothetisch anhand existierender Hintergründe näher zu beleuchten:

Schauen wir zuerst einmal nach China. Die „Neue Seidenstrasse“ führt ja durch Zentralasien und auch unweit der afghanischen Grenze entlang. Die Route führt weiter durch den Kaukasus nach Europa und wäre durch „nichtstaatliche“ Kräfte aus dem Terrorsegment leicht zu bedrohen und bei Bedarf ebenso störbar wie unterbrechbar. Eine Radikalisierung in einem vielleicht durch eingesickerte IS-Kräfte destabilisierten Afghanistan könnte auf muslimisch geprägte Nachbarstaaten überschwappen und schon kann man ohne selbst Krieg führen zu müssen, kräftig stören.

Wer hat noch die STRATFOR Rede von George Friedman auf dem Schirm, der genau das als US Strategie vorgestellt hatte? Die gibt es noch auf Youtube.

Zentralasien und Kaukasus wären (wer hat schon mal das Strategiespiel „Risiko“ gespielt?) vorzügliche Aufmarschgebiete, um Eurasien in der Mitte zu zerteilen. Von Zentralasien aus könnte man die Verbindung zwischen Russland und China stören bis unterbrechen und vom Kaukasus her Russland zerteilen sowie von Teilen der eigenen Schwerindustrie abschneiden. Der andere grosse schwerindustrielle Kern des postsowjetischen Raums liegt im Donezk-Becken (Donbass) und ist seit 2014 umkämpft.

Russland und China sind ganz „zufällig“ momentan auch die auserkorenen „Bedrohungen“, die selbst allerdings nahezu vollständig innerhalb der eigenen Grenzen stehend diejenigen „bedrohen“, die bereits sehr nahe die anderen Seiten der gleichen Grenzen „belagern“.

Wer sich jetzt noch mit McKinder’s „Heartland-Theorie“ näher befasst, der findet in dieser über 100 Jahre alten Theorie sehr viele Parallelen, die genau zur heutigen Situation passen, findet auch in Brzezinski’s Buch „Die einzige Supermacht“ die Ukraine in etwa so erwähnt, wie sich die Situation dort tatsächlich darstellt und sogar in Orwell’s „1984“ findet man Hinweise auf einen Krieg zwischen zwei Staaten namens Eurasien und Ozeanien, die wieder direkte Anleihen aus der Heartland-Theorie darstellen, die davon ausgeht, dass die Beherrschung des Doppelkontinents Eurasien der Schlüssel zur Weltherrschaft sein müsse.

Das in McKinder’s Theorie genannte „Heartland“ ist in etwa gleichzusetzen mit dem Gebiet des alten russischen Zarenreichs, das seit dem 1. Weltkrieg bereits um gewaltige Gebiete geschrumpft ist (bzw. wurde) und Teile des damals noch verbleibenden Gebiets (in MkKinder’s Theorie „Rimland“ genannt) von äusseren Kräften (bei Orwell „Ozeanien“) kontrolliert werden, was seit 2014 mit der Ukraine bereits ins Innere des Heartland ausgeweitet und auch schon in Weissrussland versucht wurde.

Nun gibt es in der Geschichte immer wieder Geschehnisse, die durch drei zusammenhängende, aber zeitlich verschobene Kriege gelöst wurden wie die 3 punischen Kriege der Römer und auch die 3 Kriege, die zur Gründung des Kaiserreichs geführt haben. Geht man von einer solchen „Gesetzmässigkeit“ aus, könnten die ersten beiden Weltkriege die Eroberung Eurasiens vorbereitet haben und der dritte könnte es vollenden wollen.

Nun leben wir seit dem Ende des so genannten „Kalten Krieges“ in einer Zeit der so genannten „Hybriden Kriege“, also Kriege, die nicht mehr rein militärisch auf Schlachtfeldern geführt werden, sondern auch wirtschaftliche Massenvernichtungswaffen (Sanktionen, Embargo, Blockade) mit einschliessen und sich scheinbar nichtstaatlicher Milizen aus dem Terror-Bereich bedienen, die man grossen Schaden anrichten lassen kann, während man die eigenen Hände offiziell in Unschuld wäscht. Zusammen mit der uralten imperialen Strategie der Römer, begehrte Länder nicht schnell und militärisch zu erobern, sondern innerlich gegeneinander auszuspielen, Teile zu „Verbündeten“ gemacht gegen andere hetzt und hinterher die Reste billig einsammelt, kann man langfristig auch grosse und mächtige Länder in die Knie zwingen. Auch das britische Empire war so aufgebaut worden und konnte mit dieser Tktik das riesige Indien erobern. An Afghanistan ist allerdings schon damals auch das grosse und mächtige britische Empire gescheitert und wurde mit blutigen Köpfen hinausgeworfen. Der Sowjetunion ging es später ähnlich und jetzt traf es die grosse und mächtige NATO, die es wohl eh nicht mehr lange hätte aufhalten können und lieber versucht, es zum eigenen Vorteil zu nutzen, als sich auch noch blutige Nasen zu holen.

Taliban haben traditionell auch gute Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst und konnten stets auch Rückzugsgebiete und Ausbildungslager in Pakistan nutzen, das seit dem Militäreinsatz gegen BinLaden nicht mehr gut auf die USA zu sprechen ist. Auch hier kann man durchaus Interessen vermuten. Iran, China und Russland werden nun versuchen, wieder mehr Einfluss in der Region zu gewinnen, versuchen allerdings auch, ein Überschwappen auf Nachbarländer zu verhindern. Wer sich recht erinnert, wird sicher noch wissen, dass kurz nach der Vertreibung der Sowjetunion die islamistischen Aufstände in Tschetschenien begannen und in zwei Kriegen versucht wurde, die Region von der Russischen Föderation gewaltsam abzuspalten. BinLaden, der bereits in Afghanistan gegen sowjetische Truppen kämpfte, wird auch einiger Einfluss bei den Tschetschenienkriegen zugeschrieben. Diese islamistischen Milizen sind nämlich eine Erfindung der CIA und es begann in Afghanistan im Kampf gegen die Sowjets mit massiver Unterstützung der USA, denen man immer wieder nachsagt, die heute existierenden islamistischen Milizen zumindest teilweise zu kontrollieren. So sickern auch IS Kämpfer seit Jahren in Afghanistan ein, teilweise mit Unterstützung der Türkei. Ob nun also wirklich Ruhe in Afghanistan einkehrt, ist fraglich.

Bliebe noch die Frage, wie das alles jetzt so schnell passieren konnte. So schnell war das nicht, wie es scheint, denn voraus gingen längere Verhandlungen und viele Bestechungen parallel mit der Einsicht vieler Stellen im Land, dass die Taliban eines Tages eh zurück kämen und man dann natürlich auf der „richtigen“ Seite stehen möchte, statt als Feind angesehen zu werden. Wer die richtigen Stellen schmiert, für den läuft das Getriebe dann halt wie geölt und genau das machte die ganze Blitzoffensive auch aus, die eine relativ kleine Zahl Kämpfer innerhalb nur einer Woche das komplette Land zurückzuerobern erlaubte, und zwar zumeist völlig kampflos. Mit Sicherheit haben auch einige brutale Anschläge dabei mitgewirkt, durch Verbreitung von Angst und Schrecken den Kampfeswillen der Armee auf ein Minimum zu reduzieren, die lieber in grosser Zahl üner die Grenzen in Nachbarländer floh, zumal man vom stärksten Verbündeten gerade schmählich im Stich gelassen wurde. Einen Teil der sich abzeichnenden Entwicklung hat man sicher in den USA bemerkt und so galt es, ein zweites Vietnam mit hohen Verlusten in der Endphase unbedingt zu vermeiden. Mit einem derart leichten Spiel für die Taliban wird man in den USA dennoch nicht wirklich gerechnet haben, wird aber dennoch froh sein, aus dem eigentlich längst verlorenen Spiel den Ausgang noch gefunden zu haben.

Ablesen kann man es aus dem Verhalten der US Truppen, die zuerst alles in ihren aufgegebenen Stützpunkten zerstörten, damit nichts mehr nutzbringendes zurückbleibt, später aber dazu übergegangen waren, Fahrzeuge, Ausrüstung und sogar Waffen in grosser Zahl sich selbst zu überlassen, nur noch schnellstmöglich die Zelte abbrechen und weg. Die Taliban freut es, sie fahren gern Humvee und davon haben sie jetzt hunderte.

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